Es beginnt oft unauffällig, fast beiläufig. Ein schärfer werdender Ton in der elterlichen Kommunikation, ein Spannungsfeld, das für Kinder nicht zu greifen, aber doch zu spüren ist. Inmitten dieser familiären Reibungen entstehen Muster, die sich tief in das Bewusstsein eingraben und ein Leben lang nachwirken. Die Frage, was eine Familie funktional oder dysfunktional macht, bleibt dabei oft unbeantwortet. Sicher ist nur: Die Folgen sind massiv, für diejenigen, die als Kinder in diesen Strukturen aufwachsen, und für eine Gesellschaft, die meist erst zu spät oder gar nicht hinsieht.
Jan Leidag kennt diese Realität aus eigener Erfahrung. Er hat selbst eine herausfordernde Kindheit in einer dysfunktionalen Familie hinter sich und hat diese Erfahrungen in seinem Buch „Mein schwieriges Leben: Trennung, Gewalt & Mobbing“ aufgeschrieben. Dort schildert er, wie er sich aus einem Umfeld voller Konflikte, Gewalt und Mobbing befreien konnte und heute als öffentliche Stimme für betroffene Kinder und Jugendliche auftritt.
Die frühen Brüche

Für viele Kinder bedeutet Familie vor allem eines: Stabilität. Doch was passiert, wenn genau diese Basis bröckelt? In vielen Fällen setzt der Bruch früh ein, oft ausgelöst durch Konflikte der Eltern, die nicht nur untereinander, sondern auch gegen das Kind ausgetragen werden. Gewalt, Vernachlässigung und emotionale Manipulation gehören in dysfunktionalen Familien nicht selten zur Alltagsrealität.
Dabei sind es nicht nur spektakuläre Eskalationen, die das Fundament erschüttern, sondern auch die kleinen, kaum wahrnehmbaren Verschiebungen. Die elterliche Trennung, das Gefühl, für eine Seite Partei ergreifen zu müssen, die ständige Angst vor Konflikten – all das hinterlässt Spuren. Besonders schwer wiegt die Parentifizierung, bei der Kinder frühzeitig Verantwortung übernehmen müssen, die eigentlich den Erwachsenen obliegt. Wenn ein Kind zum emotionalen Stabilisator eines Elternteils wird oder gar die Verantwortung für Haushalt und Geschwister trägt, verschiebt sich das Rollenverhältnis unwiderruflich.
Das Bildungssystem als Verstärker oder Rettung?
Die Schule könnte ein Schutzraum sein, ein Ort, der Kindern aus schwierigen Verhältnissen Unterstützung bietet. Doch allzu oft funktioniert sie genau gegenteilig: Sie verstärkt das Gefühl der Ausgrenzung und legt früh fest, wer als förderungswürdig gilt – und wer nicht. Kinder, die mit den Folgen eines belastenden Elternhauses kämpfen, fallen in ihrer schulischen Leistung zurück. Anstatt das Warum zu hinterfragen, werden sie in Fördersysteme überführt, aus denen es nur selten ein Entrinnen gibt.
„Ich wurde als Förderschüler abgestempelt, ohne dass man je hinterfragt hat, warum ich Probleme hatte“, beschreibt Jan Leidag seine eigenen Erfahrungen. Er ist kein Einzelfall. Vielen Kindern fehlt es nicht an Intelligenz oder Lernfähigkeit, sondern an der emotionalen Unterstützung, um sich auf den Unterricht konzentrieren zu können. Anstatt ihnen diese zu bieten, werden sie oft als Problemfälle einsortiert – mit drastischen Langzeitfolgen für ihre Bildungschancen und ihr Selbstbild.
Mobbing und Isolation – der zweite Bruch
Die psychische Belastung von Kindern aus dysfunktionalen Familien endet nicht an der Haustür. In der Schule werden sie oft zum Ziel von Mobbing, das in manchen Fällen von den Lehrkräften unbewusst verstärkt wird. Wer als „anders“ wahrgenommen wird – sei es durch eine instabile Familie, emotionale Reaktionen oder einfach durch die Begleiterscheinungen eines schwierigen Elternhauses – wird schnell zur Zielscheibe.
„Kinder, die selbst unsicher sind, schlagen oft auf diejenigen ein, die sie als schwach empfinden. Und wenn man ständig von zu Hause aus emotional belastet ist, kann man sich nicht so leicht dagegen wehren“, erklärt Leidag. Das Gefühl, nirgends wirklich hinzugehören, verstärkt die Spirale aus Angst, Rückzug und weiterem Mobbing.
Der lange Weg zur Heilung
Doch wie gelingt es, sich aus diesem Kreislauf zu befreien? Die Antworten sind so individuell wie die Betroffenen selbst. Einige finden durch Therapie Wege aus der Vergangenheit, andere durch bewusste Abgrenzung. Vielen hilft es, ihre Geschichte öffentlich zu machen, um anderen Betroffenen eine Stimme zu geben.
Leidag selbst hat diesen Weg gewählt. Er hat ein Buch über seine Erfahrungen geschrieben und engagiert sich öffentlich für das Thema. „Es braucht mehr Bewusstsein für das, was hinter verschlossenen Türen passiert. Ich will, dass Kinder und Jugendliche wissen: Ihr seid nicht allein. Und es gibt einen Weg heraus.“
Seine Geschichte zeigt, dass das Überwinden einer schwierigen Kindheit nicht nur möglich, sondern auch eine Chance sein kann – eine Chance, andere zu sensibilisieren und eine Gesellschaft zu schaffen, die nicht erst reagiert, wenn es zu spät ist.