Jürgen Rudolph war knapp 30 Jahre lang Familienrichter und ist heute als Rechtsanwalt tätig. Er ist ausgewiesener Experte für den Zustand unseres Rechtssystems im Kontext des Familienrechts und hat auch schon die Bundesregierung beraten. Er gilt als Mitbegründer des Cochemer Modells, einem Ansatz, der deutlich disziplinärer agiert als es heute an deutschen Gerichten geübte Praxis ist.
Die Perspektive der Erwachsenen dominiert das Familienrecht
Das deutsche Familienrecht behauptet, sich am Wohl des Kindes zu orientieren – in der Praxis steht jedoch oft etwas anderes im Vordergrund. Jürgen Rudolph, ehemaliger Familienrichter und heute als Rechtsanwalt tätig, wirft in einem ausführlichen Gespräch einen kritischen Blick auf das System. „Das gesamte System unserer Familiengerichtsbarkeit ist sehr erwachsenenorientiert angelegt“, erklärt Rudolph. Er macht deutlich, dass Familiengerichte häufig die Bedürfnisse der Erwachsenen in den Mittelpunkt stellen, anstatt sich konsequent am Kindeswohl zu orientieren.
„Wir sehen das besonders im Kindschaftsrecht, das Teil des Familienrechts ist. Hier geht es viel um das Umgangsrecht der Eltern mit den Kindern, und zwar hauptsächlich aus der Perspektive der Eltern“, betont Rudolph. „Dabei wird oft vergessen, dass Kinder ebenso Rechte haben – zum Beispiel das Recht auf Kontakt zu beiden Elternteilen. Dennoch bleibt die Entscheidung über den Umgang oft in der Hand der Erwachsenen.“
Die Folgen dieses Systems sind fatal: Kinder geraten in Loyalitätskonflikte, wenn sie sich entscheiden müssen, welchen Elternteil sie „verraten“. „Das ist eine unglaubliche emotionale Belastung für die Kinder“, so Rudolph. „Ein Kind fühlt sich in dieser Situation oft wie ein Verräter, wenn es die Erwartungen eines Elternteils nicht erfüllt.“
Fehlende Ausbildung und interdisziplinäre Zusammenarbeit
Ein zentraler Kritikpunkt Rudolphs ist die fehlende interdisziplinäre Zusammenarbeit im Familienrecht. Obwohl es in Deutschland Forschung und Erkenntnisse über die Dynamiken in Familienkonflikten gibt, wird dieses Wissen kaum genutzt. „Es gibt viel Forschung, aber diese wird nicht in der Ausbildung von Juristen und Richtern integriert“, erklärt Rudolph. „Gerade in Fällen von Trennung und Sorgerechtsstreitigkeiten bräuchten Richter eine tiefere Kenntnis über die psychologischen Prozesse, die in Familien ablaufen.“
Der ehemalige Richter fordert daher eine verpflichtende interdisziplinäre Ausbildung für alle Beteiligten. „Wir brauchen Fortbildungen, in denen Juristen, Psychologen, Sozialarbeiter und andere Professionen zusammenkommen und voneinander lernen. Nur so können wir die komplexen Dynamiken in Familienkonflikten wirklich verstehen und angemessen darauf reagieren.“
In diesem Zusammenhang kritisiert Rudolph auch die Arbeit der Sachverständigen. „Es gibt keine einheitlichen Standards für forensische Sachverständige. Jeder arbeitet nach eigenen Methoden, oft mit fragwürdigen Testverfahren, die kaum wissenschaftlich belegt sind“, so Rudolph. Dies führe dazu, dass die Qualität der Gutachten stark variiere und Richter häufig überfordert seien, die richtigen Experten auszuwählen. „Wenn die Person, die den Sachverständigen auswählt, nicht genügend qualifiziert ist, kann das System nicht funktionieren.“
„Die Kinder sind die Verlierer“
Die Konsequenzen dieser strukturellen Defizite sind weitreichend: Lange Gerichtsverfahren, bei denen Kinder und Eltern über Jahre hinweg in unsicheren und belastenden Situationen verharren, sind oft die Regel. „Lange Verfahren sind ein Ergebnis der Inkompetenz des Systems“, sagt Rudolph deutlich. „Kinder verlieren in solchen Verfahren immer. Wenn ein Elternteil verliert, verliert auch das Kind, weil es diesen Teil seines Lebens und seiner Familie verliert.“
Hinzu komme, dass durch die langen Verfahren oft wertvolle Zeit im Leben des Kindes verloren gehe. „Ein Jahr im Leben eines Kindes ist eine Ewigkeit. Wenn ein Verfahren mehrere Jahre dauert, kann das schwerwiegende Folgen für die Entwicklung des Kindes haben“, erklärt der Jurist. „Die Institutionen müssen darauf vorbereitet sein, schnell zu reagieren und nicht die Zeit des Kindes zu verschwenden.“
Das Rechtssystem im Wandel – oder doch nicht?
Ein weiterer wichtiger Aspekt, den Rudolph anspricht, ist die historische Verankerung des deutschen Familienrechts. „Unsere Justizstrukturen stammen größtenteils aus dem 19. Jahrhundert, aus der Zeit der Monarchie. Das Gerichtssystem wurde damals als Herrschaftsinstrument geschaffen, nicht als demokratisches Werkzeug“, erläutert er. Zwar habe es in den letzten Jahrzehnten Reformen gegeben, doch diese gingen nicht weit genug. „Das Familienrecht hat sich seit 1977 nur oberflächlich geändert. Die grundlegenden Strukturen sind immer noch die gleichen.“
Rudolph verweist auf das „Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit“ (FamFG), das 2009 in Kraft trat. Zwar seien darin erste Ansätze eines interdisziplinären Ansatzes enthalten, doch letztlich hätten es nur „Spurenelemente“ davon ins Gesetz geschafft. „Es gibt so viele Ausschüsse und Expertengruppen, die bei solchen Gesetzgebungen mitreden, dass oft die eigentlichen Ideen verwässert oder falsch verstanden werden“, bedauert Rudolph.
Die Notwendigkeit eines interdisziplinären Ansatzes
Trotz der Herausforderungen sieht Rudolph klare Wege, wie das System verbessert werden kann. Er betont, dass eine interdisziplinäre Zusammenarbeit nicht nur möglich, sondern auch dringend notwendig sei. „Wir haben in den 90er Jahren in einigen Gerichtsbezirken interdisziplinäre Teams aufgebaut, in denen Richter, Anwälte, Sozialarbeiter und Psychologen zusammenarbeiteten. Die Ergebnisse waren deutlich besser als in den traditionellen Verfahren“, berichtet er.
In diesen Teams habe man sich regelmäßig getroffen, um sich auszutauschen und gemeinsam Lösungen für die Fälle zu finden. „Es war nicht nur wichtig, das Wissen der einzelnen Professionen zu teilen, sondern auch eine gemeinsame Arbeitsweise zu entwickeln“, erklärt Rudolph. „Wir haben gesehen, dass Verfahren schneller abgeschlossen werden konnten und die Familien mit den Ergebnissen zufriedener waren.“
Doch warum wird dieses Modell nicht flächendeckend eingeführt? „Es gibt viele Vorurteile und auch Widerstände gegen eine solche Arbeitsweise. Manche halten interdisziplinäre Ansätze für zu kompliziert oder nicht umsetzbar“, meint Rudolph. „Aber wir haben gezeigt, dass es funktioniert. Es ist nur eine Frage des Willens, dies auch politisch umzusetzen.“
Ein Blick in die Zukunft
Ob sich in Zukunft politisch etwas ändert, ist für Rudolph schwer abzuschätzen. „Wir waren schon einmal nah dran, als die FamFG-Reform diskutiert wurde“, erinnert er sich. Doch bis heute sei nicht viel geschehen. Er glaubt jedoch, dass der gesellschaftliche Druck auf die Politik steigen könnte. „Die Menschen akzeptieren es nicht mehr, wenn sie aus Gerichtsverfahren herauskommen und unzufrieden sind – besonders, wenn es um das Wohl ihrer Kinder geht.“
Abschließend bleibt Rudolph optimistisch, dass interdisziplinäre Ansätze im Familienrecht irgendwann mehr Beachtung finden werden. „Die Vorteile liegen auf der Hand. Es gibt keine Alternative, wenn wir wirklich das Kindeswohl in den Mittelpunkt stellen wollen.“
Jürgen Rudolphs Einblicke verdeutlichen die Schwächen des deutschen Familienrechtssystems und den dringenden Handlungsbedarf. Kinder geraten in Konflikte, die sie nicht bewältigen können, und die rechtlichen Strukturen sind nicht ausreichend, um ihnen zu helfen. Die Lösung, so Rudolph, liege in einer interdisziplinären Zusammenarbeit und einer besseren Ausbildung der beteiligten Professionen. Bleibt zu hoffen, dass Politik und Gesellschaft diesen Weg bald ernsthaft beschreiten.