Gefühlsblindheit in Familien Gefühlsblindheit in Familien

Gefühlsblindheit in Familien: Wenn Eltern Emotionen nicht sehen können

In gefühlsblinden Familien bleiben die Emotionen oft unausgesprochen – mit Folgen für die Kinder. Welche Herausforderungen und Chancen hier entstehen, erklärt Dr. Carlotta Welding.

In der heutigen Gesellschaft wird der Ausdruck von Gefühlen zunehmend thematisiert. Doch was passiert, wenn Eltern emotional „blind“ sind? Dr. Carlotta Welding, Emotionswissenschaftlerin und Coach, beleuchtet die Auswirkungen, die diese sogenannte Gefühlsblindheit oder Alexithymie auf das familiäre Zusammenleben und insbesondere auf Kinder haben kann. Gefühlsblindheit ist kein Krankheitsbild, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal, das bei rund 10 % der Bevölkerung zu finden ist. Gefühlsblinde Menschen haben Schwierigkeiten, ihre eigenen Emotionen zu erkennen, auszudrücken und auch die Emotionen anderer Menschen zu verstehen. Diese Unfähigkeit betrifft alle Bereiche ihres Lebens – und kann für die Kinder in solchen Familien tiefgreifende Folgen haben.

Eine emotionale Leere und ihre tiefen Spuren

Kinder, die in einem Umfeld aufwachsen, in dem Emotionen kaum gezeigt oder gar nicht wahrgenommen werden, entwickeln häufig ein Gefühl von Verunsicherung und Einsamkeit. Besonders kleine Kinder sind auf die emotionale Resonanz ihrer Bezugspersonen angewiesen. Durch diese sogenannte interpersonelle Emotionsregulierung lernen sie, ihre eigenen Gefühle zu verstehen und angemessen mit ihnen umzugehen. Ein Kind, dessen Gefühle wiederholt unbeachtet bleiben, lernt dagegen möglicherweise, dass es seine Emotionen ignorieren oder unterdrücken muss, da sie in seinem Umfeld keinen Raum haben. Dieses emotionale Defizit führt oft dazu, dass die Kinder nicht nur Schwierigkeiten im Umgang mit ihren eigenen Gefühlen entwickeln, sondern auch in ihren späteren sozialen Beziehungen unsicher werden.

Gefühlsblindheit als gesellschaftliches Erbe

Oft ist die emotionale Verschlossenheit eine Erblast, die von Generation zu Generation weitergegeben wird. Besonders bei Männern, so Welding, zeigt sich dieses Erbe oft in Sätzen wie „Jungen weinen nicht“ oder „Indianer kennen keinen Schmerz“. Solche Aussagen verdeutlichen den gesellschaftlichen Druck, den Ausdruck von Gefühlen – insbesondere sanfter Emotionen wie Trauer und Verwundbarkeit – zu vermeiden. Gefühlsblinde Eltern, die selbst emotional wenig Anerkennung erfahren haben, tragen diese Haltung unbewusst weiter. In vielen Familien wird über Alltagsbelange gesprochen, jedoch selten über Emotionen. Diese emotionale Leere lässt Kinder häufig mit einem Gefühl von Isolation zurück, da sie den Umgang mit Gefühlen weder erleben noch erlernen können.

Wenn der eigene Schmerz die Kinder trifft

Ein weiterer, häufig unterschätzter Mechanismus in gefühlsblinden Familien ist das Weitergeben unverarbeiteter emotionaler Lasten. So erklärt Welding, dass Eltern, die als Kinder selbst wenig emotionale Zuwendung erfahren haben, oft unbewusst auf die Gefühle ihrer eigenen Kinder mit Distanz oder gar Ablehnung reagieren. Ein Vater, der selbst niemals Schwäche zeigen durfte, verbietet vielleicht auch seinem Sohn das Weinen – weniger aus Überzeugung, sondern vielmehr, weil er seine eigene Trauer und Verletzlichkeit als bedrohlich empfindet. Diese Art der Projektion kann sich tief in das emotionale Erleben des Kindes einschreiben und zu einer inneren Distanz gegenüber den eigenen Gefühlen führen.

Unterstützung durch das Umfeld: Zuhören und offen sein

Kinder aus gefühlsblinden Familien brauchen oft eine emotionale Zuflucht, um ihre Gefühle ausdrücken zu können. Hier können Menschen im Umfeld – Großeltern, Lehrer, Nachbarn oder Freunde – einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie den Kindern Raum für ihre Emotionen geben. Dr. Welding betont, wie wichtig es ist, dass diese Bezugspersonen konkretes Interesse an den Gefühlen der Kinder zeigen und durch gezielte Fragen wie „Wie fühlst du dich in deiner neuen Schule?“ oder „Vermisst du deine alten Freunde?“ ein Gespräch anregen. Dabei geht es nicht darum, die Eltern zu kritisieren oder die Kinder zur Veränderung der familiären Verhältnisse anzuspornen. Vielmehr soll den Kindern gezeigt werden, dass ihre Emotionen wichtig sind und dass es Menschen gibt, die sie ernst nehmen. Für Kinder kann das eine wertvolle Unterstützung sein und ihnen helfen, einen Weg zu ihren Gefühlen zu finden – selbst wenn dies in ihrer eigenen Familie schwerfällt.

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