Im Herzen von München, in einer Stadt, die für ihre Sicherheit und ihren Wohlstand bekannt ist, liegt das KinderschutzHaus München – ein Ort, den man wohl kaum mit den idyllischen Bildern verbindet, die viele Menschen von dieser Stadt haben. Doch die Realität zeigt eine andere Seite: eine Seite, auf der Misshandlung, Vernachlässigung und die tiefgreifende Erschütterung kindlicher Biografien allgegenwärtig sind. Andrea Wimmer, die das KinderschutzHaus leitet, kennt diese Realität nur allzu gut. Ihre Arbeit beginnt dort, wo andere längst wegsehen und endet oft an den Grenzen eines überlasteten Systems, das mehr denn je vor der Herausforderung steht, Schutzbedürftigen gerecht zu werden.
Das Kinderschutzhaus ist wie eine Notaufnahme in einem Krankenhaus – wir sind rund um die Uhr, das ganze Jahr über, für Kinder da, die dringend Schutz brauchen.
Andrea Wimmer
Das KinderschutzHaus fungiert als eine Art Notaufnahme für Kinder, deren Wohl akut gefährdet ist. Polizei oder Jugendämter bringen sie hierher, oft nach dramatischen Einsätzen, in denen Kinder aus ihren Familien gerissen werden, um sie vor weiterer Gewalt oder Vernachlässigung zu schützen. Wie Wimmer betont, sind viele dieser Kinder mit Erfahrungen konfrontiert, die sie nicht als abnorm wahrnehmen: Es ist für sie erst einmal „normal“, geschlagen zu werden, an den Haaren gezogen oder gar im Dunkeln isoliert zu leben – sie haben es meist nie anders erlebt. Der Weg aus dieser „Normalität“ bedeutet für die Kinder nicht nur Schutz, sondern oft auch eine neue Form des Traumas – die plötzliche Entwurzelung und der Verlust der gewohnten Umgebung.
Ein überfordertes System
Der Idealprozess einer schnellen, gezielten Hilfe bleibt oft Wunschdenken. Was im besten Fall eine kurzfristige Maßnahme sein sollte – drei bis sechs Monate Schutz und Betreuung – wird zur Langzeitlösung. Der Grund: Fachkräftemangel, überfüllte Einrichtungen und eine Verwaltung, die häufig am Limit operiert. So verbringen manche Kinder mehrere Jahre im KinderschutzHaus, obwohl die Unterkunft ursprünglich nur als Übergangslösung gedacht war. Wimmer spricht offen von einer „neuen Realität“: Kinder bleiben häufig, weil einfach kein anderer Platz verfügbar ist. Gleichzeitig muss das System, müssen die Jugendämter aufgrund von fehlenden Aufnahmeplätzen oft nach Priorität entscheiden, wer überhaupt aus gefährdeten Verhältnissen befreit wird – eine Art „Triage“, wie sie Wimmer beschreibt.
Der Personalmangel macht die Arbeit zusätzlich zur physischen und psychischen Belastungsprobe. Fachkräfte, die sich dieser Arbeit widmen, müssen nicht nur die Qualifikationen und das Herz für den Beruf mitbringen, sondern auch bereit sein, für ein Gehalt zu arbeiten, das der emotionalen Belastung kaum gerecht wird. Die „Work-Life-Balance“, so berichtet Wimmer, ist kaum zu realisieren, denn Schichtdienste, Nachtarbeit und Arbeit an Feiertagen sind der Alltag im KinderschutzHaus.
Kämpfen um Biografien
Das KinderschutzHaus setzt sich nicht nur für die Sicherheit der Kinder ein, sondern auch dafür, dass ihre Biografien mit Bedacht und Würde behandelt werden. Denn viele der Kinder, die hier unterkommen, stehen vor der Frage: Werden sie in eine Pflegefamilie kommen, oder gibt es eine Chance, in ihre eigene Familie zurückzukehren? Die Mitarbeiter des Hauses bemühen sich, möglichst sanfte Übergänge zu gestalten. Das bedeutet intensive Arbeit mit den Eltern – selbst wenn diese schwere Fehler begangen haben – um den Kindern die Bindung zu ihren Eltern zu erhalten.
„Wir schreiben neue Biografien“, sagt Andrea Wimmer über die Aufgabe ihres Teams, das häufig nicht nur die Kinder, sondern auch ihre Eltern begleitet. Denn Eltern, die Unterstützung annehmen, können langfristig Stabilität für ihre Kinder schaffen. Doch gerade wenn das familiäre Umfeld unsicher oder überlastet ist, bleibt die Herausforderung bestehen: das Kind zu schützen und ihm gleichzeitig eine Perspektive mit seinen eigenen Eltern zu ermöglichen, wo immer es möglich ist.
Dennoch gibt es Situationen, in denen der Kontakt zu den Eltern unmöglich oder gefährlich ist. In diesen Fällen sind nur virtuelle Treffen möglich – soweit es die Sicherheit zulässt. Wimmers Haltung dazu ist klar: „Das sind die einzigen Eltern, die sie haben.“ Es geht darum, den Kindern das Gefühl zu geben, dass ihre Familie – so schwierig sie auch sein mag – irgendwo da draußen ist und nicht vollkommen verloren.
Ein Gespräch, das nachdenklich macht
Bei einem persönlichen Gespräch mit Andrea Wimmer wird deutlich, wie sehr das Team des KinderschutzHauses um jeden einzelnen Schicksalsweg kämpft und wie unverzichtbar Einrichtungen wie diese sind. Trotz aller Hindernisse bleibt das Haus ein Leuchtturm für Kinder, die im Dunkeln ihrer Lebensumstände gefangen sind – und für eine Gesellschaft, die nicht wegsehen darf.