Kinder, die zu Eltern werden. Ein befremdlicher Gedanke, möchte man meinen, doch er beschreibt eine traurige Realität, die in vielen Familien nahezu unbemerkt stattfindet. Die Psychologie nennt es Parentifizierung: Kinder übernehmen Verantwortung, die ihnen nicht zusteht, sie treten in die Rolle der Erwachsenen und tragen die Last der Fürsorge, ohne die nötige Reife und die Kraft, die dafür eigentlich erforderlich wären. Sie tun dies oft still, fast unsichtbar, und sie tun es, weil die Erwachsenen um sie herum die Rolle des Schutzes, der Geborgenheit und der Stabilität nicht ausfüllen können. Sie tun es aus Notwendigkeit und aus Liebe.
Die unbarmherzige Bürde der Verantwortung
In einer Kindheit, die von elterlicher Überforderung, Krankheit oder emotionaler Abwesenheit geprägt ist, bleibt den Kindern oft nichts anderes übrig, als den Alltag zu bewältigen – sich um das kleinere Geschwisterchen zu kümmern, den Eltern Trost zu spenden, den Haushalt zu führen oder gar in finanziellen Nöten beizustehen. Kinder werden hier zu Kümmerern, zu „kleinen Erwachsenen“, deren Kindsein ein ums andere Mal zurückgestellt wird. Die elterliche Aufgabe, das Kind zu behüten, ihm Grenzen und einen stabilen Rahmen zu geben, bleibt unbesetzt. Das Kind wird zum Retter, zum einzigen Halt in einer stürzenden Welt.
Dabei ist die Parentifizierung nicht immer ein lautes, klares Szenario, das sofort sichtbar wird. Meist zeigt sich diese Rollenverlagerung in kleinen Gesten und Aussagen, die zunächst gar nicht auffallen mögen. Es sind die Mädchen und Jungen, die sagen, „Ich schaff das schon allein“ oder „Papa, weine nicht, ich kümmer’ mich darum“, und die im Innersten wissen, dass ihre Rolle viel zu groß ist für ihre kleinen Schultern. Für die Eltern kann das zunächst eine Erleichterung sein, denn sie sehen das Kind als „stark“, als „frühreif“. Dass es dabei Opfer erbringt, die ihre Spuren bis in das Erwachsenenalter ziehen, bleibt oft unbemerkt.
Wenn das Elternhaus zur Bürde wird
Kinder, die parentifiziert werden, tragen nicht nur eine Last, sie tragen auch Narben, die sich tief in ihre Biografien eingraben. In vielen Fällen entwickeln sich Schuldgefühle, das ständige Gefühl, nicht genug leisten zu können, nicht genug zu sein. Sie wachsen in der Überzeugung auf, dass sie nur dann wertvoll sind, wenn sie die Erwartungen anderer erfüllen, wenn sie helfen, retten und alles geben. So werden sie Erwachsene, die nicht gelernt haben, „Nein“ zu sagen, Erwachsene, die das Gefühl haben, ständig in einem Hamsterrad zu laufen und für jeden anderen da sein zu müssen – Erwachsene, die ein Leben lang versuchen, die Anerkennung zu bekommen, die ihnen in ihrer Kindheit verweigert wurde.
Besonders schwer wird das Leben, wenn sie nie lernen konnten, sich abzugrenzen und eigene Bedürfnisse zu spüren. Diese Kinder kennen kein „Ich darf Fehler machen“ oder „Ich darf schwach sein“. Sie kennen nur das, was sie als Kind schon kannten: das Übernehmen und das „Durchhalten“. Die Welt der Erwachsenen, in die sie zu früh gedrängt wurden, hat ihnen das Vertrauen in die Leichtigkeit genommen – eine Leichtigkeit, die in gesunden Kindheiten den Alltag prägt und die Kinder stark macht.
Das Wachsen der Eltern durch die Augen der Kinder
Das Paradox dieser Konstellation liegt in ihrer unauflösbaren Ungerechtigkeit: Kinder übernehmen die Rolle des Starken, ohne stark sein zu können. Eltern werden zu Versorgten, ohne zu reflektieren, was dies für die kindliche Psyche bedeutet. In einigen Fällen nehmen Eltern die neue Rolle der Kinder wohlwollend an, teils sogar mit Stolz: „Mein Kind ist schon so erwachsen!“ Doch dieses „Erwachsensein“ ist ein Trugbild, ein gefährliches sogar. Es führt dazu, dass das Kind zu einer Art „Co-Elternteil“ wird, mit Aufgaben überhäuft, die ihm nie zugedacht waren. Und in einer verkehrten Welt leben diese Kinder weiter, immer bestrebt, die Erwachsenenrolle so gut wie möglich zu spielen – ein Stück um das andere von sich selbst preisgebend.
Wenn das Kind nicht nur mitarbeitet, sondern sogar die Eltern erzieht, wenn es die Grenzen der Eltern bestimmt, dann zeigt sich die Parentifizierung in ihrer extremsten Form. Da ist dann das kleine Mädchen, das seine Mutter in die Beratungsstelle schickt, das Teenagerkind, das den Vater stützt und die Familie zusammenhält. Wenn die Rollenverhältnisse so verzerrt sind, wird das Erkennen der Notwendigkeit einer Korrektur erschwert, und der Schmerz wird zur Normalität.
Ein Aufruf zur Empathie
Was es braucht, um diese Spirale zu durchbrechen, ist Mut, Einfühlungsvermögen und die Bereitschaft der Eltern, ihre eigene Verantwortung anzunehmen. Niemand kann sich aussuchen, wie viel Last er tragen muss, doch jeder kann entscheiden, wann Hilfe nötig ist. Eltern, die psychisch belastet sind, oder Eltern, die sich von der Aufgabe überfordert fühlen, dürfen – und müssen – sich Unterstützung holen, um Kindern das zu schenken, was ihnen am meisten fehlt: die Freiheit, Kind zu sein. Es braucht nicht immer die sofortige Lösung für jedes Problem, sondern das sichere Gefühl für Kinder, dass sie gehalten werden und nicht selbst der Halt sein müssen.
Der Blick auf die Parentifizierung ist ein Appell an die Gesellschaft, an die Pädagogen, Therapeuten und die Eltern, die Verantwortlichkeit für die Schwächsten in unserer Mitte zu übernehmen. Denn die Psychologie ist sich einig: Kinder, die in diesen Rollenverwechslungen aufwachsen, erleiden einen tiefen Schmerz, der sie auch als Erwachsene prägen wird. Es sind die Kinder, die nie „genug“ sein können, weil sie immer das Gefühl hatten, mehr tun zu müssen, um gesehen zu werden. Es sind Erwachsene, die die Vergangenheit oft in Therapien aufarbeiten müssen, die den Schutz und die Geborgenheit nicht kannten und dies erst mühsam für sich selbst erlernen müssen.
Parentifizierung ist eine stille, eine schmerzhafte Verschiebung der familiären Verhältnisse, die sich oft über Jahre entwickelt. Sie kann jedoch geheilt werden, wenn Eltern sich bereit erklären, der Realität ins Auge zu sehen und Unterstützung anzunehmen. Empathie und die Bereitschaft zur Reflexion sind die Schlüssel, die Kinder davor schützen können, in die Rollen zu rutschen, die ihnen nicht zustehen – und die Eltern dazu bringen, sich mit den eigenen Versäumnissen, Ängsten und Bedürfnissen auseinanderzusetzen, um ihrem Kind das zu geben, was ihm zusteht: die Unbeschwertheit einer geschützten Kindheit.